Pierre-Louis Blanchard
Vortrag gehalten am 08.11.2019 in Bern.
Videoaufzeichnung ist hier abrufbar.
Normalerweise rede ich frei und ohne Skript. Um es der Übersetzung einfacher zu machen, werde ich vom Skript lesen. Ich bitte zu entschuldigen, falls es ungelenk klingt.
Ich habe in einer noch unveröffentlichten Dissertation die Herkunft von menschlichen Überresten in anthropologischen Sammlungen untersucht. Und zwar genauer in zwei Sammlungen: Die anthropologische Sammlung des Naturmuseums Basel und die anthropologische Sammlunge des Musée de l’homme in Paris. Der historische Zeitraum meiner Untersuchung erstreckte sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1918.
Ich habe für tausende von Objekten in beiden Sammlungen für diese Zeit die Herkunft menschlicher Überreste angeschaut mit dem Ziel einen allgemeinen Eindruck der Sammelmethoden zu erhalten. Meine Arbeiten beschränkte sich also auf anthropologische Sammlungsobjekte, das heisst es handelt sich hauptsächlich um Knochen für physische Anthropologie. Es sind naturwissenschaftliche Objekte. Ich hoffe die folgenden Ausführungen sind auch für nicht-anthropologische Sammlungen menschlicher Überreste von Belang.
Was ich heute vorstelle ist jedoch nicht direkt von meiner Dissertation abgeleitet. Ich werde eher theoretische Ausführungen zum Umgang mit menschlichen Überresten machen. Aufgrund der Zeitlimite kann ich nicht sehr tief eintauchen, aber ich hoffe es ist für Sie dennoch wertvoll.
Über den Umgang mit menschlichen Überresten gibt es schon einige Literatur. Hier drei Werke, die ich für das heutige Thema am wichtigsten erachte. Die genauen Referenzen dieser Werke sowie Bildnachweise finden Sie auf meiner Webseite.
Zunächst müssen wir kurz definieren, was mit menschlichen Überresten gemeint ist. Es sind nämlich verschiedene Definitionen möglich. Um es kurz zu machen: Für mich sind menschliche Überreste alles was einst Teil eines menschlichen Körpers war.
Dazu zählen:
Diese Aufzählung ist vor allem für historische Sammlungen von Belang.
Man kann auch Körperflüssigkeiten, Exkremente und – in der heutigen Zeit wichtig – DNA dazu rechnen.
Das Bild unten in der Mitte ist eine Haarprobe in einem Glasröhrchen. Links unten sehen wir eine Damaru, eine tibetische Trommel. Diese werden aus zwei Schädelkalotten hergestellt. Das veranschaulicht, dass menschliche Überreste in verschiedensten Formen in verschiedenen Arten von Sammlungen auftreten können.
Eine besondere Herausforderung generell beim Umgang mit menschlichen Überresten, ist dass man es nicht mit blossen Objekten zu tun hat, sondern mit Subjekten, bzw. ehemaligen Subjekten, mit Individuen. Menschliche Überreste waren Teile von Personen und können sogar mit den Toten selbst identifiziert werden. Dies unterscheidet menschliche Überreste von anderen Objekten in einer grundlegenden Weise und macht sie zu besonders sensiblen Objekten in Sammlungen.
Überreste von Verstorbenen können vielfältige kulturelle Bedeutungen annehmen und Beziehungen zu lebenden Personen oder Institutionen bilden.
Zunächst ist da der oder die Verstorbene selbst. Es ist ihr Körper um den es sich handelt. Der Umgang mit den eigenen Überresten kann von Person zu Person mit verschiedenen Vorstellungen verbunden sein.
Angehörige der Verstorbenen haben Verstorbene persönlich gekannt und zu Lebzeiten eine Beziehung zu Ihnen gehabt. Auch sie können bestimmte Vorstellungen über den Umgang mit den menschlichen Überresten der Verstorbenen haben.
Menschliche Überreste können auch durch die Zugehörigkeit der Versorbenen zu einer Gruppe, einer Nation oder ähnlichem Bedeutung haben und können auch als eine Art Gallionsfigur oder politisches Symbol fungieren. Hier bewegen wir uns in der Kategorie, die bezüglich Repatriierungs-Forderungen wohl am bedeutendsten sind. Hier kommen Identitätspolitik und Postkoloniale Theorie am stärksten zum tragen.
Menschliche Überreste können weiterhin auch Teil eines Personenkults sein. Prominente Bespiele sind die Leichname wichtiger kommunistischer Führungspersonen wie Lenin, Ho Chi Min oder Mao.
Menschliche Überreste stehen in engem Zusammenhang mit dem Sterben und Bestattungen. Bestattungsstätten sind eine der wichtigsten Orte, wo sich menschliche Überreste finden lassen. Mit Bestattungen und dem Sterben gehen Vorstellungen über das Jenseits einher sowie Vorstellungen über den richtigen Umgang mit menschlichen Überresten. Menschliche Überreste können daher auch sakrale Objekte sein in dem Sinne, das sie im Rahmen von Religionen und Glauben einen besonderen, geschützten Status geniessen.
Aufgrund des Status menschlicher Überreste als Objekte an der Schwelle zwischen Objekt und Subjekt, sind sie auch in magischem Denken wirkungsvolle Objekte. Überreste wie Haare können so beispielsweise genutzt werden um einen Fluch oder einen anderen magischen Effekt auf die Person auszuüben, von der die Überreste stammen.
Sie können auch als Kunstobjekte angesehen werden. Das sind Objekte die vor allem wegen ihrer ästhetischen Qualität gesammelt werden. Beispielsweise ein reich dekorierter Schädel.
Menschliche Überreste können auch als Memento oder Souvenirs angesehen werden: Ein Erinnerung an ein Ereignis. Im Unterschied zum Personenkult geht es beim Souvenirs nicht um die betreffende Person selbst, sondern um ein Ereignis. Ein Beispiel hierfür könnten Kriegstrophäen sein, die auf einem Schlachtfeld gesammelt werden.
Die für anthropologische Sammlungsobjekte wichtigste Kategorie sind wissenschaftliche Objekte. Das sind Objekte, die für den Zweck wissenschaftlicher Forschung in einer stark systematisierten Weise gesammelt werden.
Diese verschiedenen Beziehungen und Bedeutungen, die menschliche Überreste annehmen können, schliessen sich nicht gegenseitig aus, sondern können überschneidend auftreten. Natürlich werden verschiedene Personen oder Personengruppen unterschiedliche Beziehungen zu menschlichen Überresten haben. Diese Aufstellung folgt einem Gradienten von Kategorien, in denen das Subjekt stark erhalten bleibt hin zu stark objektifizierenden Kategorien.
In der Anthropologie ist die Herkunft menschlicher Überreeste zu klären meistens nicht einfach. Die Angaben der Sammler sind häufig dürftig. Es waren für die Sammler vor allem die geografische und ethnische Herkunft gefragt. Schliesslich ging es der Anthropologie um die Erforschung der Vielgestaltigkeit des Menschen, um Migrationsbewegungen und Verwandtschaftsbeziehungen zwischen bestimmten Gruppen. Die Erkenntnisse dienten häufig der Erstellung von Rassentheorien.
Die Menschen, die Individuen, die hinter den Überresten steckten, waren von einem wissenschaftlichen Standpunkt von geringer Rolle. Menschliche Überreste wurden in der Anthropologie nicht viel anders betrachtet als andere naturwissenschaftliche Objekte. Es ist daher eher selten, dass man menschliche Überreste mit einer Person identifizieren kann. Es kommt aber vor. Wo es möglich war, wurden Namen der Personen von denen die Überreste stammen, aufgenommen. Ethische Fragen zum Sammeln menschlicher Überreste wurden kaum gestellt. Das ist auch aus Anleitungen zum Sammeln abzuleiten.
Es gibt Anleitungen, die Sammlern und Anthropologen erklären, wie man verschiedene anthropologische Objekte sammelt. Es gibt einige von Broca aus den Jahren 1865 bis 1879, die die Grundlage bilden für eine Anleitung von Emil Schmidt aus dem Jahr 1888. Diese Wiederum war eine Vorlage für Rudolf Martins Lehrbuch der Anthropologie von 1914, welches eine Grundlage für Generationen von Anthropologen war. Auch ich habe noch zum Teil aus diesem Buch gelernt.
Diese Anleitungen sind sehr technisch und enthalten keine ethischen Richtlinien oder Überlegungen.
Die Provenienz menschlicher Überreste zu erfoschen steht häufig in Verbindung mit Repatriierungsanfragen aus ehemals kolonisierten Ländern. Zwischen Gesammelten und Sammelnden herrschte ein Machtgefälle, dass der Anerkennung kolonisierter Menschen als Individuen abträglich war. In Sammlungen haben Überreste den Status eines Sammlungsobjektes. In den meisten Fällen, und insbesondere in anthropologischen Sammlungen, wurde das Individuum, das hinter dem Objekt steht, schon beim Sammeln im Feld zum Objekt abstrahiert. Ethische Bedenken zum Sammeln menschlicher Überreste wurden kaum thematisiert. Dieser objektifizierende Zugriff auf kolonisierte Menschen spiegelt die kolonialen Machtstrukturen wider. Und die kolonialen Machtstrukturen spiegeln sich in den gesammelten Objekten wider.
Möchte man Museen zunehmend von kolonialen Machtstrutkuren entflechten, ist es daher wichtig bei Fragen der Provenienzforschung zu versuchen den Objekten ihre Subjektivität zurückzugeben.
Es ist wichtig in den menschlichen Überresten die Überreste von Menschen zu sehen, deren Menschenwürde gewahrt bleiben muss.
Der kulturelle Kontext der Herkunftsgesellschaften, also die Gesellschaft aus denen die menschlichen Überreste herkommen, sollte geklärt werden: Wie ist der Umgang mit Toten und deren Körper? Wie waren die Machtrelationen zwischen Sammlern und Gesammelten? Sind die näheren Angehörigen der Toten bekannt? usw. usf.
Neben der Herkunftsgesellschaft sollte auch die Gesellschaft in der sich die Sammlungen befinden und deren kultureller Kontext betrachtet werden: Welche Sensibilitäten herrschen, was den Umgang mit Toten angeht? Welche Bräuche und Gewohnheiten herrschen vor und weshalb bestehen diese? Welche Argumentationen und Sensibilitäten unterliegen ihnen? Wer spricht für wen? Dies ist nützlich um zu verhindern auf Herkunftsgesellschaften die eigenen Sensibilitäten hineinzuprojizieren.
Wenn man den Sammlungskontext untersucht, sollte man nicht in Anachronismen verfallen. In Herkunftsgesellschaften kann heutzutage ein ganz anderes Empfinden vorherrschen, wie man mit Toten umgehen sollte, als es zur Zeit der Sammlung war. Wenn es, zum Beispiel, zum Zeitpunkt des Sammelns von der Herkunftsgesellschaft als ethisch unbedenklich empfunden wurde, menschliche Überreste zu sammeln, sollten die Überreste auch heutzutage nicht als bedenklich angesehen werden.
Um diese Punkte umzusetzen, ist die Einbindung von Herkunftsgesellschaften und Angehörigen soweit wie möglich umgesetzt werden. Dies ist auch als ein Korrektiv zu sehen, um ungleiche Machtverhältnisse wieder ein Stück weit auszubalancieren.
Kurzum, man muss sich Bemühen der Menschenwürde der gesammelten Individuen möglichst gerecht zu werden. Ein respektvoller, pietätvoller Umgang mit menschlichen Überresten sollte stets eingehalten werden. Menschliche Überreste sollte man versuchen von mehreren Persepektiven zu betrachten und den kulturellen Kontexten sollte besonderes Gewicht beigemessen werden.
Ahrndt, Wiebke: «Zum Umgang mit menschlichen Überresten in deutschen Museen und Sammlungen – Die Empfehlungen des Deutschen Museumsbundes» in: Stoecker, Schnalke & Winkelmann (Hg.) 2013, S. 314–322.
Berner, Margit, Anette Hoffmann & Britta Lange: Sensible Sammlungen: aus dem anthropologischen Depot, Hamburg: Philo Fine Arts 2011.
DMB (Hg.): Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen, Link April 2013 (Abruf: 09.07.2018).
Fründt, Sarah: «Alle anders, alle gleich? Internationale Repatrierungsbewegungen», in: Stoecker, Schnalke Winkelmann (Hg.) 2013, S. 323–338.
Fründt, Sarah: «Wer spricht?», in: Katharina Hoins, Felicitas von Mallinckrodt, Macht. Wissen. Teilhabe., Bielefeld: Transcript Verlag 2015, S. 97–108.
Stoecker, Holger, Thomas Schnalke & Andreas Winkelmann (Hg.): Sammeln, Erforschen, Zurückgeben? Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen, Berlin: Ch. Links 2013.
Fründt, Sarah. “Systematische Provenienzforschung an kolonialen Schädelsammlungen,” in: Krihl et al. 2017, S. 38–44. Link.
Krihl, Antonia, Anne Mackinney, Sabine Müller-Brem, Sarah Fründt, Irene Hilden, Amira Adaileh, Jennifer Moldenhauer, et al.: Materielle Kultur in universitären und außeruniversitären Sammlungen. Humboldt-Universität zu Berlin, 2017. Link.
Broca, Paul: Instructions générales pour les recherches anthropologiques (ana- tomie et physiologie), Paris & Leipzig: Victor Masson et fils 1865.
Broca, Paul: Instructions craniologiques et craniométriques de la Société d’anthropologie de Paris, Paris: G. Masson 1875.
Broca, Paul: Instructions générales pour les recherches anthropologiques à faire sur le vivant, Paris: G. Masson 2. Aufl. 1879.
Schmidt, Emil: Anthropologische Methoden: Anleitung zum Beobachten und Sammeln für Laboratorium und Reise, Leipzig: Veit & Co. 1888.
Martin, Rudolf: Lehrbuch der Anthropologie, Jena: Gustav Fischer Verlag 1914.
Pearce’sche Sammel-Modi
Mehrere der gelisteten Kategorien sind von den Sammel-Modi von Susan Pearce inspiriert, wurden jedoch stark angepasst und verändert.
Pearce, Susan M.: Museums, Objects, and Collections, Washington D.C.: Smith- sonian Institution Press 1992, S. 68-88.
Diese Sammel-Modi wurden später durch weitere Kategorien erweitert:
Pearce, Susan M.: On Collecting. An investigation into collecting in the European tradition, New York: Routledge 1999 (1995), S. 28-35.
Museen als ‘contact zone’ und Dekolonisierung von Museen
Boast, Robin: «Neocolonial Collaboration: Museum as Contact Zone Revisited», in: Museum Anthropology, Bd. 34, Nr. 1 (2011), S. 56–70.
Clifford, James: «Museums as Contact Zones», in: ders., Routes: Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge: Harvard University Press 1997, S. 188–219.
Pratt, Marie Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, New York & Abingdon: Routledge 2008.
Last Update: 13.1.2020
Last updated on: 2024-05-13